raindrops

 

"I'm an alien" oder die hochsensible Seide unter den Jeansstoffen

 

"Irgendwie fühle ich mich oft überfordert. Von jetzt auf gleich ist mir alles zu viel. Da kann ich mich noch nicht einmal mit dem Reifendruck meines Autos auseinandersetzen."
"Wissen Sie, was ich aus Ihren Erzählungen glaube? Sie sind hochsensibel."
Ah ja, und jetzt? Was heißt das genau???

 

Die Sache mit der Hochsensibilität

Hochsensibel heißt, dass die Sinne die umgebenden Reize intensiver aufnehmen, der Filter fehlt, der sie kompensiert. Das heißt, egal welcher Reiz kommt, meine Sinne stürzen sich darauf, wie so manch einer, der vor einem "All-you-can-eat"-Buffet steht und nicht genug bekommen kann. Ein bisschen noch von den Lichteffekten hier, noch ein bisschen mehr von dem Gesprächsgemurmel am Nebentisch, ach ja, und die Nase nimmt auch noch wie nebenbei jede Duftnote mit, die ihr in die Quere kommt. Den Sinnen ist es egal, ob es zu viel wird. Ihre Aufgabe ist es, wahrzunehmen. Und zwar Alles. Alles, was da so von der Umwelt auf dem Präsentierteller landet. Da kann es schonmal passieren, dass man zwischendurch etwas überfordert und überreizt auf verschiedene Situationen reagiert. Erst recht, wenn die Menschen um einen herum so Manches vielleicht gar nicht registrieren.

Nicht selten habe ich gehört "Ach du schon wieder und deine Nase. Ich rieche gar nichts." Nur, um mal ein Beispiel zu nennen. Oder "Wie, die Stimmung im Raum war angespannt? Ich habe davon nichts gemerkt."

"Hochsensibel? Und, kann man das bearbeiten?" Nein, kann man nicht und muss man auch nicht. Hochsensible sind genauso normal wie alle anderen auch. Es gibt einfach weniger von Ihnen, daher fühlen Sie sich oft irgendwie falsch. Eben irgendwie wie ein Alien unter den anderen. Es ist in etwa so, wie wenn man das Leben mit Zoom zu sich heranzieht, um auch wirklich jedes Detail zu erfassen. Es ist auf jeden Fall sehr schön intensiv, doch manchmal auch zu viel des Guten.

Gleichzeitig war dieses Wissen, diese Erkenntnis über die Hochsensibilität, die ich auch gerne Feinfühligkeit nenne, wie eine Offenbarung für mich. Endlich habe ich verstanden, was mit mir "los" ist. Und endlich kann ich entspannen. Ich brauche nicht mehr gegen mich anzukämpfen, sondern darf akzeptieren, so zu sein, wie ich bin.

Ok, es klingt jetzt vielleicht etwas einfacher als es ist, da ich ja mein Leben lang dachte, ich müsste anders sein. Ich müsste nach einem Arbeitstag im vollem Friseurgeschäft mit dem Geruch von Dauerwellflüssigkeit, dem Rauschen von mehreren Föhns samt Gesprächsuntermalung und dem konzentrierten Arbeiten mit Farbsträhnen, dann auch noch abends stundenlang mit Freunden in Clubs rumziehen, mit lauten dröhnenden Bassbeats, schwitzenden, kreischenden Menschen und Stroboskop-Geflackere. Danach hätte ich dann erstmal drei Tage gebraucht, um mich wieder von all dem zu erholen, und das ganz ohne Kater von Alkohol. Der Kater meines strapazierten Gehirns hat völlig gereicht. Doch so viel Auszeit geht ja dann auch wieder nicht.

Mit dem Verstehen der Hochsensibilität verstehe ich mich auch immer mehr. Und das ist sehr befreiend.

Ich habe dazu den schönen Vergleich bekommen, die Seide unter den Jeansstoffen zu sein. Und zur Seide würde ja auch niemand sagen "Oh, den Stoff müssen wir robuster machen, damit wir ihn für Rugby-Kleidung verwenden können." Nein, im Gegenteil, die Seide wird dafür genommen, wofür sie gut ist, für ganz bestimmte Kleidungsstücke, die schön fließend, geschmeidig, glänzend wirken sollen.

Und so gilt es, als Seide unter den Menschen auch sein Leben etwas sanfter und achtsamer zu gestalten. Mehr Ruhe zu finden, eher in die Natur gehen, statt Samstag mittags ins Pflanzengeschäft, in dem sich gerade jeder zu tummeln scheint. Vielleicht lässt man auch den Actionfilm im Heimkino weg und hört sich sanfte Musik an, wenn die Woche schon mit Reizüberflutung gefüllt war.

Doch man sollte es auch nicht zu extrem interpretieren. Es gibt so manchen Hochsensiblen, der sich auch mal gerne dahinter versteckt, so als wäre es eine Krankheit. "Oh, das kann ich nicht, ich bin hochsensibel." Doch das bringt uns nicht weiter. Die Welt ist wie sie ist, mit all ihren Eindrücken, ihrer Schnelligkeit und Überangebot. Und es ist wichtig, sich darin zurecht zu finden. Auch als Hochsensibler kann man alles, es ist einfach gut, zu lernen, sich Manches besser einzuteilen und auf sich aufzupassen. Mehr in sich hineinhören. "Was tut mir gut, was nicht?" Gerade in der Freizeitgestaltung. Wo und wie kann ich meine Ressourcen wieder aufladen bzw. meine Sinne für einen Moment zur Ruhe kommen lassen, um mich dann wieder ins Leben zu stürzen. Welche Reize kann ich steuern? Ist das Licht zu hell, dann versuche es zu dimmen oder setze draußen eine Sonnenbrille auf. Hast du zu viele Geräusche um dich? Gibt es welche, die du abschalten könntest, zum Beispiel das Radio.

Vor allem das "In-sich-reinhören" und "Auf-sich-achten" haben Hochsensible über Jahre mehr und mehr abgelegt, weil sie sich ja so gut anpassen können. Und sie wollen ja auch dazu gehören, zu den Jeansstoffen. Doch mit der richtigen Dosierung gelingt das auch und Seide und Jeans werden zu einer guten Mischung.

Manchmal helfen kleine Auszeiten, eine Meditation in der Mittagspause, ein wohlig warmes Bad am Abend, die Ruhe im Wald, der Geruch des Herbstes (oder welche Jahreszeit auch gerade ist). Oder auch einfach mal ein paar Minuten nur Ein- und Ausatmen, sonst nichts. Und dann geht es wieder weiter.

Hochsensibilität, juchheh, wie schön. Denn sie hat auch viele Gaben zu verschenken. Vielleicht hilft es auch, statt hochsensibel sich das Wort "hocheffizient" mal auf der Zunge zergehen zu lassen. Denn das ist das, was unser Gehirn macht, die ganze Zeit. Hocheffizeint zu arbeiten, denn all die Eindrücke wollen verwertet werden. Daher ist unser Gehirn ein Hochleistungssportler, der in Windeseile neue Synapsenvernetzungen herstellt, viel schneller um die Ecke denken kann und so oftmals in einem Affenzahn neue Lösungsansätze und Ideen entwickelt, bei dem die anderen manchmal gar nicht so schnell mitkommen.

Und gerade auch die Gabe des Hineinspürens, den anderen erkennen, das Leben wahrnehmen, ist gerade in der heutigen Zeit so wichtig und ein großes Geschenk, wenn wir richtig damit umgehen. Wir nehmen das Leben intensiv auf, mit jedem Sinn in vollen Zügen und kratzen nicht nur an der Oberfläche. Darum lasst uns feiern, mit schönen Eindrücken, wohltuenden Empfindungen und hin und wieder einer Auszeit, nur für uns.

Lasst uns leben, lieben, lachen. Vor allem Lachen, auch mal über uns selbst, denn es ist durchaus auch lustig und bereichernd ein Alien zu sein.

Voller Feinfühligkeit einen herzlichen Gruß an jede Seide und jeden Jeansstoff. :-)